Index
1. Frühe Besiedlung
Erste Spuren menschlicher Besiedlung auf dem Territorium des heutigen Argentinien stammen aus der Altsteinzeit, dem Mesolithikum sowie dem Neolithikum und sind damit zwischen 8000 und 6000 Jahre alt.
Auf menschliche Anwesenheit deuten aber bereits Funde in der Provinz Santa Cruz wie Los Toldos, die Cueva de las Manos sowie dem Piedra Museo hin, deren Alter auf ca. 13000 Jahre datiert werden. Neben bearbeiteten Steinwerkzeugen und Tierknochen wurden Schaber und steinerne Speerspitzen zutage gefördert, die auf eine Kultur von Jägern hinweisen.
Besonders faszinierend sind aber Felsmalereien wie die in der Cueva de las Manos, die als älteste Kunstzeugnisse des südamerikanischen Kontinents gelten. (Bild: Fjturban [ CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons)
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2. Das vorkoloniale Argentinien
Die indigene Bevölkerung des heutigen argentinischen Territoriums umfasste bei Ankunft der Spanier zu Beginn des 16. Jahrhunderts nach Schätzungen rund 330.000 Menschen, die gut zwanzig ethnischen Gruppen angehörten.
Die Bewohner des Nordwestens, der Zentralen Sierras und der seit Mitte des 19.Jahrhunderts Mesopotamien genannten Region im Nordosten betrieben Landwirtschaft, während im Rest des Landes von Jäger- und Sammlergruppen dominierten.
Die am weitesten verbreiteten Kulturen waren die Diaguita im Nordwesten, die Guaraní, die Tupí, die Toba und die Guaicurú im Nordosten, die Pampa (von den Spaniern so nach ihrem Lebensraum benannt) im Zentrum und die Tehuelche, Mapuche und weitere Gruppen im Süden.
Die Diaguita stellten sowohl die komplexeste Kultur als auch mit geschätzt 200 000 Angehörigen die bevölkerungsstärkste Gruppe auf dem argentinischen Territorium.
Sie lebten als sesshafte Bauern, die ihre Mais- Kürbis- und Bohnenfelder mittels künstlichen Kanälen bewässerten und Lamas züchteten, deren Wolle sie zu Stoffen verarbeiteten. Darüber hinaus sammelten sie die Früchte des Johannisbrotbaums und die des Chañar (auch chilenischer Palo Verde genannt).
In der materiellen Kultur der Diaguita sticht die hochentwickelte Keramik hervor. Waren die für den häuslichen Gebrauch bestimmten Töpfe und Gefäße sowohl in Form als auch im Dekor recht einfach gehalten, wurde die rituellen und kultischen Zwecken dienende Keramik in Form und Dekor zunehmend komplexer.
Eine Sonderstellung nehmen Gefäße in Entenform, so genannte jarros patos, sowie Begräbnisurnen ein.
Photo: Warko [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
Die Guaraní, kulturell eng verwandt mit den Tupí, siedelten auf argentinischem Territorium vor allem in der heutigen Provinz Misiones als halbsesshafte Bauern, die ihre Felder und Dörfer, sobald der Boden ausgelaugt war, verlegten.
Bis zu 60 patrilinear verwandte Familien lebten jeweils gemeinsam in einem der vier bis sechs großen Häusern, aus denen ein Dorf bestand. Das Bestellen der Felder, auf denen sie u.a. Mais, Maniok und Süßkartoffeln anbauten, blieb den Frauen überlassen, während die Männer jagten und fischten.
Ihre religiösen Vorstellung waren geprägt vom Glauben an ein verlorenes Paradies, in das sie eines Tages, geführt von einem Schamanen, zurückkehren würden.
Während der Phase der Jesuiten-Missionen lebten viele Guaraní in so genannten Reduktionen, de facto Reservaten, die als Modelldörfer organisiert waren und die Bewohner u.a. auch vor Sklavenhändlern schützten. Die nach der Ausweisung der Jesuiten aus der „Neuen Welt“ (1767) schnell zu Ruinen verfallenden Überreste dieser Missionen gelten heute als Weltkulturerbe. (Photo: Miguel Vieira, derivative work: Mr. Pany Goff [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons)
Als Pampa wurden diejenigen indigenen Gruppen bezeichnet, die ihren Lebensraum südlich der Dornbuschsavannen des Chaco, in der so genannten Pampa (Quechua: Ebene, Feld), hatten. Sie gehörten zu den nördlichen Tehuelche, mit denen sie die Wirtschaftsform als nomadische Jäger und Sammler, die soziale Organisation und die Weltanschauung teilten. Von den Mapuche wurden sie Puelche (=Menschen des Ostens) genannt. Zu Beginn des 19.Jahrhunderts wurde die angestammte Bevölkerung nach und nach von den Kulturen der Araukanier und Mapuche überlagert, jedoch nannte man die in dieser Region lebenden Menschen weiterhin Pampa.
Tehuelche
Nach der am weitesten verbreiteten Meinung stammt das Wort tehuelche aus dem Mapudungún (Sprache der Mapuche) chewel che, dessen Bedeutung “tapfere Menschen”, “widerspenstige Menschen” oder “Menschen aus kargem Land” wäre. Eine andere Version deutet darauf hin, dass es vom Namen einer ihrer Teilgruppen, der Teushen, dem das Mapuche Wort “che”, was “Menschen” oder “Dorf” bedeutet, angehängt wurde.
Tehuelche fungiert als Sammelbegriff für mehrere indigene Gruppen, die ihren Lebensraum in der südlichen Pampa und in Patagonien hatten. Ihr südlichster Zweig nannte sich Aónikenk. Sie lebten in weitgehend egalitär organisierten Gruppen als nomadische Jäger und Sammler.
Zu Fuß durchstreiften sie ausgedehnte Gebiete, um Guanacos, Nandús und anderes essbares Wild zu jagen. Dank ihrer detaillierten Kenntnis des Territoriums folgten sie saisonal den Wildtierherden zu deren Weidegebieten. Hier schlugen sie dann jeweils ihr Lager auf, aik oder aiken genannt. Dies bestand aus halboffenen Zelten, deren Stangen mit rotbemalten Tierhäuten bespannt waren. Während der Winterzeit blieben sie im Flachland (im Grasland, an Küsten und Seeufern), während sie im Sommer auf die zentralen Hochebenen Patagoniens oder in die Anden zogen, wo sie im Cerro Chaltén ihren heiligen Berg hatten (Bild: Photographische Reproduktion aus “Reise zum Südpol und über den Ozean …..” durch die französischen Schiffe ASTROLABE und ZELEE unter dem Kommando von Dumont D’Urville, 1842. Quelle: NOAA [Public domain], via Wikimedia Commons).
Im Kontakt mit den Mapuche, die im Zuge der so genannten Araukanisierung Patagoniens aus dem später Araukanien genannten Teil Chiles auch auf argentinisches Territorium vordrangen, veränderte sich die Lebensweise sowohl der Tehuelche wie auch anderer Gruppen im argentinischen Patagonien. Einen grundlegenden Kulturwandel bewirkte die Einführung des Pferdes, dank dessen die Indigenen nicht nur weitere Strecken zurücklegen, sondern auch wesentlich effizienter jagen konnten.
Auch die soziale Organisation wandelte sich von kleinen, egalitären Familienverbänden hin zu größeren Einheiten von bis zu 1000 Menschen unter der Führung eines Kaziken. Besonderen Einfluss hatte die Einführung des Pferdes auf die Kriegsführung sowohl der Mapuche als auch der Tehuelche, die zu buchstäblichen Reitervölkern wurden.
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3. Die Spanische Kolonie
Die ‚Entdeckung und Eroberung’ der Gebiete des heutigen Argentiniens durch Spanier begann mit einer Reihe von Fehlschlägen:
Als erster Europäer ging Juan Díaz de Solís, vom spanischen König als Nachfolger des verstorbenen Amerigo Vespucci eingesetzt, 1516 am Río de la Plata, den er für einen außergewöhnlich salzarmen Meeresarm hielt, in der Nähe des heutigen Punta del Este an Land.
Da de Solís’ Expedition nur aus drei kleinen Caravellen bestand, war er überhaupt erst im Stande, in solch flachen Gewässern zu navigieren, was sich prompt rächen sollte: Kaum war er mit nur wenigen Matrosen an Land gegeangen, wurde er zusammen mit seinen Begleitern vermutlich von Guaraní getötet und der Legende nach verspeist… .Lediglich der Schiffsjunge Francisco del Puerto wurde verschont und blieb für Jahre, bis ihn die Expedition des Venezianers Sebastian Cabot 1527 bei einer Gruppe der indigenen Charrúa antraf. Del Puerto bestätigte Cabot die Existenz eines Silberreiches des „Weißen Königs“ flussaufwärts (Bild: Illustration aus dem späten 19.Jahrhundert von Ulpiano Checa (1860-1916) [Public domain], via Wikimedia Commons
Obwohl es weder Silber noch anderes Edelmetall gab, war damit der Ursprung sowohl des Namens Río de la Plata als auch Argentiniens gelegt.
Die Reise Cabots, der am Ufer des Paraná die Festung Sancti Spiritu gegründet hatte, war ein völliger Misserfolg: Kostbarkeiten wurden nicht gefunden, Sancti Spiritu wurde von der einheimischen Bevölkerung niedergebrannt, Cabots Offiziere meuterten ob dessen seemännischer Unfähigkeit und wurden auf der Insel Santa Catalina ausgesetzt bevor die Übrigen mit leeren Händen nach Europa zurückkehrten.
Auch Pedro de Mendoza, dem „Conquistador“ aus Almería, war bei seinen Unternehmungen in Südamerika kein Glück beschieden. Zwar gründete er 1536 mit Santa María de los Buenos Aires die erste argentinische Stadt, doch die Siedlung stand unter keinem guten Stern. Die Eroberer kamen erst Ende des Sommers an, so dass es für einen eigenen Anbau zu spät war. Daher zwangen sie die Einheimischen Pampa und Querandí, die Kolonisten mit Lebensmitteln zu versorgen, was diese zunehmend feindselig gegenüber den Fremdem stimmte.
Hunger, Elend und ständige Attacken zermürbten und dezimierten die Einwohner (Bild: US 2257.154*, Houghton Library, Harvard University [Public domain], via Wikimedia Commons)
Als Juan de Garay im Jahr 1580 Buenos Aires zum zweiten Mal gründete, war die erste Siedlung längst entvölkert.
Mendoza war bereits im April 1537 krank wieder Richtung Spanien abgereist, starb jedoch nahe den Kanarischen Inseln auf hoher See (vermutlich an Syphilis).
Völlig erfolglos und mit großen Verlusten verbunden verliefen die spanischen Versuche, das heute als Patagonien bekannte Territorium im Süden des Kontinents unter die Kontrolle der Kolonialmacht zu bringen. Die indigene Bevölkerung und insbesondere die in und von Chile aus agierenden Mapuche leisteten heftigen Widerstand und zwangen Spanien 1641 im Vertrag von Quillín, die Mapuche als unabhängige Nation anzuerkennen, deren Hoheitsgebiet südlich des Río Bío Bío begann.
Im Laufe der nahezu drei Jahrhunderte andauernden Kolonialzeit gehörte das spätere argentinische Territorium verschiedenen Verwaltungseinheiten an:
Auf das Gouvernement Neu-Andalusien (1524-1542) folgten das Gouvernement des Río de la Plata (1549-1776), das bis 1661 unter der Aufsicht der Real Audiencia von Lima im Vizekönigreich Peru stand, bis die erste Royal Audiencia of Buenos Aires (1661-1671) geschaffen wurde. Bis zur Unabhängigkeit Argentiniens stand im Südteil das Vizekönigreich des Río de la Plata (1776-1814) unter der Regierungsaufsicht der zweiten Königlichen Audiencia von Buenos Aires (1783-1810) und der Nordteil unterstand der Real Audiencia von Charcas.
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4. Unabhängigkeit und Nationalstaat
Als Vorläufer der Unabhängigkeitsbewegung entpuppte sich ausgerechnet ein Angriff der Briten auf Buenos Aires im Jahr 1806. Diese hatten sich nach dem Sieg in der Schlacht von Trafalgar ermutigt gesehen, eine Expedition nach Südamerika zu senden, um sich am Río de la Plata festzusetzen. Jedoch wurden sie letztlich von einer überwiegend kreolischen Armee zurückgeschlagen, nachdem sich der spanisch Vizekönig vergeblich um spanische Unterstützungstruppen bemüht hatte und schließlich ins Hinterland geflohen war.
Diese Erfahrung stärkte zum einen das Selbstbewusstsein der lokalen kreolischen Eliten und verstärkte gleichzeitig die Wut auf die spanische Kolonialmacht (Bild rechts: Charles Fouqueray (1869-1956), gemeinfrei, Quelle: Historisches Nationalmuseum, Argentinien via Wikipedia).
Vor dem Hintergrund und unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege in Europa, in deren Verlauf Spanien unter französische Herrschaft geriet, kam es in Buenos Aires 1810 zur so genannten Mai-Revolution. Diese mündete in der Bildung der ersten von der spanischen Krone unabhängigen Regierung, obwohl deren Regierungserklärung noch einen Treueeid auf den von Napoleon abgesetzten spanischen König Ferdinand VII. enthielt.
Getragen wurde diese weitgehend gewaltfreie Revolution vor allem von spanischstämmigen und kreolischen Kaufleuten, die sich durch die Behandlung des Hafens Buenos Aires durch die spanische Kolonialmacht benachteiligt sahen: Spanien besaß wie in allen Häfen seines Reiches ein Handelsmonopol. Da Buenos Aires aber weder Gold, Silber noch eine ansässige indigene Bevölkerung aufzuweisen hatte, die man hätte ausbeuten können, und die Gewässer zudem als Piraten verseucht galten, gelangten wesentlich weniger Schiffe mit begehrten Waren nach Buenos Aires als z.B. nach Mexiko oder Lima.
Insbesondere bei Kaufleuten, die ohne den Umweg über Spanien über englische Händler (Schmuggel-) Ware bezogen, war das Interesse am Freihandel und dem Bruch des spanischen Monopols groß.
Eine andere Gruppe war zwar auch für den Freihandel, wollte aber den Schutz der lokalen Produktion und Manufakturen beibehalten, während schließlich die von der spanischen Krone autorisierten Monopolhändler den Freihandel ablehnten, weil dann die legal eingeführten Produkte ihre Gewinne schmälern würden. (Bild links: Darstellung der Vereidigung der ersten argentinischen Regierungsjunta am 25.Mai 1810 des chilenischen Malers Pedro Subercaseaux. Quelle: Pedro Subercaseaux [Public domain], via Wikimedia Commons)
Wurden in den ersten Jahren die Beziehungen zu Spanien noch nicht vollständig abgebrochen, war es dann am 9. Juli 1816 so weit: Die Vereinigten Provinzen des Río de la Plata erklärten sich auf dem Kongress von San Miguel de Tucumán für unabhängig (Karte rechts: von pruxo, Kartenteile Küsten, Flüsse, Grenzen siehe: Natural Earth (EPSG 102032), abgeleitete Arbeit: rowanwindwhistler (Diskussion) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
Da zu diesem Zeitpunkt Spanien jedoch das benachbarte Chile zurückerobert hatte, sah sich das Bündnis bedroht. Daraufhin führte der Gouverneur der Provinz Cuyo, José de San Martín, eine Armee in einer logistischen und militärischen Glanzleistung, die ihm einen vergleichbaren Ruf wie Napoleon oder Hannibal einbrachte, im Januar 1818 über die Anden, um die spanischen Truppen vom chilenischen Territorium zu vertreiben. Nach einer Reihe von Schlachten, unter denen die von Chacabuco und Maipú die entscheidenden waren, gelang dies auch.
Dies machte José de San Martín zum Nationalhelden Argentiniens, ein Nimbus, den er mit der Befreiung des Vizekönigtums Peru, die ihm durch die Einnahme Limas und die Ausrufung der Unabhängigkeit Perus am 18. Juli 1821 gelang, festigte. (Bild links: Julio Vila y Prades [Public domain], via Wikimedia Commons)
Mit der Unabhängigkeit der Provinzen des Río de la Plata war noch lange kein argentinischer Nationalstaat geschaffen. Rivalitäten bestimmten das Verhältnis zu anderen Provinzen des Landes, die sich nicht der Dominanz des Überseehafens Buenos Aires beugen wollten. So standen den Vertretern eines zentralistischen Staates in den Großgrundbesitzern und Caudillos Föderalisten entgegen, die eine Staatsform nach dem Vorbild der USA befürworteten.
Hinzu kamen kriegerische Auseinandersetzungen mit Brasilien um die Region „Banda Oriental“, die 1828 mit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Uruguay endeten.
Noch bis weit in die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts war die argentinische Geschichte von wechselnden Diktaturen, Allianzen und Bürgerkriegen geprägt.
Von der ersten Gründung der Argentinischen Republik im Jahre 1853 dauerte es fast zehn Jahre, bis sich 1862 schließlich auch die Provinz Buenos Aires dem neuen Nationalstaat anschloss.
Nach landesweiten Wahlen wurde Bartolomé Mitre zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Er gilt im historischen Rückblick als derjenige Präsident, dem es gelungen war, eine durch innere und äußere Konflikte zerrüttete Nation zu vereinen und eine Ära des Friedens und des wirtschaftlichen Fortschritts einzuleiten. (Bild rechts: Unbekannt [Public domain], via Wikimedia Commons
Auch für das kulturelle Leben Argentiniens leistete Mitre einen entscheidenden Beitrag: Er war Gründer der Zeitung La Nación (1870) und der Argentinischen Akademie für Geschichte. Er schrieb Poesie und Prosa-Werke und übersetzte Dante und zahlreiche historische Studien.
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5. Die Einwanderung und die Geburt des modernen Argentinien
Nach Jahrzehnten liberaler Regierungen begann 1880 die ein Vierteljahrhundert andauernde Epoche der konservativen Republik, die mit dem Namen General Julio Argentino Roca und der national autonomistischen Partei PAN verbunden ist.
Sie monopolisierten die Macht auf der Grundlage manipulierter Wahlen.
Diese wurden durch das voto cantado genannte offene Abstimmungsverfahren begünstigt.
Die konservative Republik trat zu dem Zeitpunkt auf den Plan, als das Britische Empire nach dem Sieg über China im Zweiten Opiumkrieg eine weltweite ökonomische Vorherrschaft erreicht hatte, die auf dem System einer internationalen, de facto imperialistischen Arbeitsteilung basierte: Dabei blieb die Produktion von Industriegütern den nordeuropäischen Ländern vorbehalten, während in Argentinien billige Lebensmittel (Fleisch und Getreide) für die englische Arbeiterklasse auf den Ländereien in den fruchtbaren Pampas produziert wurden, die sich im Besitz einer kleinen Gruppe von Estancieros, meist Porteños (Einwohner von Buenos Aires) befanden. Gleichzeitig übernahm das britische Kapital die Mehrheit an den Eisenbahnen, Kühlhäusern und Banken.
In dieser Epoche wurden auch massive Einwanderungswellen aus Europa, vor allem aus Italien und Spanien gefördert.
Diese importierte Arbeiterklasse besaß ebenso wenig das Wahlrecht wie ein Großteil der argentinischen Bevölkerung.
Erst 1916 wurde erstmals nach dem allgemeinen Wahlrecht (für Männer) in allgemeiner, freier und geheimer Wahl gewählt.
Aus dieser Wahl ging Hipólito Yrigoyen als Sieger hervor, der sich aber einer konservativen Mehrheit im Parlament gegenübersah und daher überwiegend per Dekret regierte. Yrigoyens erste Präsidentschaft (er wurde 1928 erneut gewählt) markiert den Beginn der so genannten radikalen Phase (la etapa radical), die sich innenpolitisch durch eine ambivalente Politik auszeichnete, bei der moderaten sozialen Reformen die brutale Niederschlagung von Streiks und Studentenprotesten gegenüberstand, die in der tragischen Woche (semana trágica) vom Januar 1919 ihren traurigen Höhepunkt fand. Ausgehend von einem Streik in einem metallverarbeitenden Betrieb eskalierte die Gewalt zwischen Polizeikräften, streikenden Arbeitern, die zum Teil der anarchistisch geprägten Gewerkschaft FORA angehörten, Streikbrechern und faschistsischen Kommandos der Argentinischen Patriotischen Liga, die mit dem brutalen Überfall auf das jüdische Viertel Once auch das einzige Pogrom auf dem amerikanischen Kontinent beging, bei dem Synagogen und Bibliotheken zerstört und hunderte Juden ermordet, erniedrigt und gefoltert wurden (Photo: Revista Caras y Caretas [Public domain], via Wikimedia Commons).
Dem Radikalismus folgte von 1930 bis 1943 ein als „infame Dekade“ in die Geschichte eingegangenes Jahrzehnt.
Sie begann mit dem Militärputsch vom 6. September 1930 gegen Präsident Hipólito Yrigoyen, der 1928 demokratisch für seine zweite Amtszeit gewählt worden war, und führte zu einer Reihe betrügerischer und korrupter konservativen Regierungen, die das Land bis 1943 regierten (Bild rechts: Unbekannt [Public domain], via Wikimedia Commons).
Ein erneuter Putsch beendete im Juni 1943 diese Phase. Einer der Gründe des Putsches war auch trotz fortgesetzter Neutralitätspolitik Argentiniens die Nähe der amtierenden Regierung zu den Alliierten des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig gab es sowohl in der spanisch-, italienisch und deutschstämmigen Bevölkerung als auch im Militär eine Sympathie für die Achsenmächte (Deutschland, Italien, Japan) und den spanischen Faschismus. Als letztes Land überhaupt erklärte Argentinien im März 1945 unter dem Druck der USA Deutschland den Krieg und stellte sich formal an die Seite der Alliierten.
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6. Peronismus, Militärregime und weiter
Juan Domingo Perón (1895-1974) begann seine politische Karriere nach einer militärischen Ausbildung als Protegé von Edelmiro Farrell, einem der putschenden Generäle von 1943. Schon bald sollte der ebenso charismatische wie widersprüchliche Perón zur prägendsten Figur der argentinischen Geschichte des 20.Jahrhunderts werden (Bild links: Pinélides A. Fusco [Public domain], via Wikimedia Commons).
Bevor der überzeugte Antikommunist 1946 erstmals zum Präsidenten gewählt, ist er bereits als Arbeitsminister und Vizepräsident der Militärregierung von 1943 zum Held der Arbeiterschaft geworden, indem er die Gewerkschaften gestärkt, geregelte Arbeitszeiten, Urlaub, Renten und andere Sozialleistungen eingeführt hatte.
Gleichzeitig lässt Perón, der eine offene Bewunderung für Franco und vor allem Mussolini hegte, tausende Nazis und Kriegsverbrecher über die Rattenlinie genannte Fluchtroute nach Argentinien einschleusen, wo sie oft jahrzehntelang unbehelligt lebten.
Perón galt als begabter Redner, dem es gelang, die Massen zu begeistern, doch einen besonderen Anteil an seiner großen Popularität hatte seine zweite Ehefrau Eva Duarte Perón, die in Argentinien bis heute wie eine Volksheilige verehrt wird. „Evita“ war als 15Jährige aus der Provinz nach Buenos Aires gekommen, mit dem unbedingten Willen, Karriere beim Film zu machen (Bild links: Fotografie von Eva Duarte de Perón, das der guatemaltekischen First Lady María Cristina Vilanova de Árbenz (1915-2009) gewidmet ist. Deren Ehemann, Präsident Jacobo Árbenz (1913-1971), wurde 1954 durch einen von der US-Regierung unter Dwight Eisenhower angeordneten Staatsstreich gestürzt.
Nachdem sie Perón kennengelernt und 1945 geheiratet hatte, machte sie Wahlkampf für ihn und als First Lady auch aktiv Politik, vor allem aber engagierte sie sich in einer eigenen Wohltätigkeitsorganisation und stilisierte sich zum „Engel der Armen“, indem sie sich für bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen und Frauenrechte einsetzte.
Als „Evita“ nach Peróns Wiederwahl 1952 mit 33 Jahren an Krebs stirbt, sinkt auch dessen Stern. Die Infrastruktur -und Sozialprogramme haben den argentinischen Staat nach den goldenen Nachkriegsjahren fast in den Ruin getrieben, und liberale Gesetze wie die Abschaffung des Religionsunterrichts oder die Gleichstellung nichtehelicher Kinder bringt auch die katholische Kirche gegen Perón auf.
1955 putscht ihn das Militär aus dem Amt, doch Perón bleibt auch im spanischen Exil der Strippenzieher im Hintergrund. Als das Militär 1973 freie Wahlen ausruft, gewinnt Peróns Partei Partido Justicialista und er kehrt wenige Wochen später triumphal nach Buenos Aires zurück, wo Wahlsieger Cámpora bald seinen Posten für ihn freimacht und ihm so eine dritte Amtszeit beschert.
Doch statt des starken Mannes, den die Argentinier sich erhofft hatten, waren sie wenige Monate später, nach dem Tod des ehemaligen Helden der Arbeiter, mit dessen überforderter Witwe Isabel Perón konfrontiert, die der gesundheitlich angeschlagene Präsident als Vizepräsidentin eingesetzt hatte.
Nach zwei chaotischen Jahren, in denen sich linke und rechte Peronisten und die Oppositionskräfte soweit radikalisierten, dass politische Morde, wilde Streiks, Entführungen und paramilitärische Aktionen an der Tagesordnung waren, putschte das Militär am 24. März 1976 ein weiteres Mal.
Die sechste Militärjunta, die Argentinien im 20.Jahrhundert regierte, sollte eines der dunkelsten Kapitel in dessen Geschichte schreiben.
Der schmutzige Krieg wurde zum offenem Staatsterror, dem in den Folgejahren mindestens 30 000 Menschen zum Opfer fielen. Sie wurden von Spezialkommandos entführt, gefoltert und getötet, ohne dass ihre Leichen wieder auftauchten. Unter diesen desaparecidos (Verschwundene) waren vor allem Linke und Student*innen, deren Mütter ungeachtet der Gefahr, in die sie sich damit selbst begaben, regelmäßig auf der Plaza de Mayo protestierten und Auskunft über den Verbleib ihrer Kinder verlangten (Bild links: Museo Casa Rosada [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons).
Die Mehrheit der argentinischen Bevölkerung ließ sich aber von Ereignissen wie der Fußballweltmeisterschaft 1978 bereitwillig von wirtschaftlichen Problemen und Verbrechen gegen die Menschenrechte ablehnen, insbesondere da es im Vorfeld auch international keine Proteset gab, und die Albiceleste unter Trainer César Luis Menotti das Turnier schließlich gewann (Bild rechts: Unbekannt [Public domain], via Wikimedia Commons).
Ein weiteres Ablenkungsmanöver von den internen Problemen, jedoch mit anderem Ausgang, war der 1982 von der Junta unter General Videlas Nachfolger Leopoldo Galtieri angezettelte Falklandkrieg, den Großbritannien durch die Wiedereroberung der auch Malvinas genannten Inselgruppe binnen weniger als dreier Monate gewonnen hatte.
Mit dieser Niederlage und vor dem Hintergrund einer galoppierenden Staatsverschuldung hatte die Militärregierung ihren letzten Kredit auch bei der konservativen Bevölkerung verspielt.
Nach Galtieris Rücktritt, der unmitelbar auf die militärische Niederlage folgte, kündigte sein Nachfolger Bignone freie Wahlen für das Jahr 1983 an.
Erster ziviler Präsident wurde Raúl Alfonsín von der Unión Cívica Radical (UCR).
Er trat wie alle seine Nachfolger*innen ein schwieriges Amt an, das ihn angesichts horrender Staatsschulden und Hyperinflation von rund 300% pro Jahrvor nahezu unlösbare Aufgaben stellte.
Sein Nachfolger Carlos Menem, der dem rechten Flügel der peronistischen Partei entstammte, versuchte 1989, durch die Privatisierung von Staatsbetrieben und die 1:1 Bindung des Peso an den US-Dollar, die Situation zu entschärfen, was jedoch nur kurzfristig gelang. Bald äußerte sich die große Diskrepanz zwischen dem offiziellen Wechselkurs und dem inneren Wert des Peso in massiver Kapitalflucht.
Nach der Jahrtausendwende führten schwere Unruhen infolge des Einfrierens sämtlicher Bankguthaben zum Rücktritt des Präsidenten De la Rúa.
Mit der Einstellung aller Zahlungen an private Gläubiger folgte 2002 de facto der Staatsbankrott.
Danach betrat mit Nestor Kirchner/ Cristina Fernández de Kirchner das nach den Peróns als zweitbedeutendste Politikerdynastie geltende Ehepaar des Landes die Bühne, nur unterbrochen von einem weiteren neoliberalen Intermezzo unter Mauricio Macri (2015 bis 2019).
Ende 2019 steht das Land, das in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts zu den zehn reichsten Ländern der Welt zählte, erneut vor der Zahlungsunfähigkeit.
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