Index
01. Die Conquista und der Untergang des Aztekenreichs
Jahrhunderten verloren, mit einer Ausnahme: Im Hochtal von Mexiko besaßen die Azteken, die sich selber Mexica nannten, eine blühende Hauptstadt inmitten des Texcoco-Sees, deren Größe, Architektur und Lage weit über das unmittelbare Einflussgebiet der Azteken hinaus bekannt waren. Tenochtitlan war auf dem Höhepunkt seiner Macht und dennoch zum Untergang verurteilt, als die Nachricht von den fremden Ankömmlingen Moctezuma II erreichte.
Ob Moctezuma, der als vierundzwanzigjähriger Theologiestudent vom Adel der aztekischen Gesellschaft zum “Sprecher” der Azteken und zum Nachfolger Ahuitzotls bestimmt worden war, wirklich an die Legende vom wiederkehrenden Gott Quetzalcoatl glaubte und dadurch zur tragischen Figur wurde, ist nicht sicher.Nach der aztekischen Überlieferung hatte sich der nahende Untergang über Jahre in unheilvollen Vorzeichen angekündigt.
In jedem Fall traf Moctezuma mit seinem Versuch, die Fremden mit kostbaren Geschenken, die er ihnen durch Gesandte überbringen ließ, zur Umkehr zu bewegen, eine fatale Entscheidung: Cortés – ebenso dreist wie Moctezuma zögerlich – ließ seine Schiffe verbrennen, zwang seine Begleiter damit zur Loyalität und machte sich über die Pässe der Sierra Madre auf nach Tenochtitlan…
Bis zum heutigen Tag liefert die Geschichtsschreibung keine wirklich plausible Erklärung dafür, wie es einer überschaubaren Streitmacht von weit unter tausend Mann gelingen konnte, eine der einflussreichsten politischen Mächte der damaligen Welt physisch und ideell zu vernichten. In der bloßen Schilderung der Ereignisse herrscht jedoch weitgehend Konsens: Cortés und seine engsten Begleiter, darunter auch seine Dolmetscherin Malinche, wurden in den Palast vorgelassen.In einer wechselseitigen Geiselnahme wurde Moctezuma einerseits zum Gefangenen der Spanier, die ihrerseits in Tenochtitlan gefangen waren. Ein Fest zu Ehren des Gottes Huitziliopochtli eskalierte in einem Blutbad. Die Spanier töteten zahlreiche Mitglieder des aztekischen Adels, und nur das persönliche Eingreifen Moctezumas rettete sie vor der aufgebrachten Menge. Ob Moctezuma dann durch einen Steinwurf aus den eigenen Reihen, oder von den Spaniern getötet wurde, ist unklar.
In dieser, als “noche triste” in die Geschichte eingegangenen Nacht vom 30. Juni 1520 versuchten die Spanier, aus Tenochtitlan zu fliehen. Der Versuch wurde entdeckt und geriet zu einem blutigen Debakel, bei dem zahlreiche Spanier, die nicht von Azteken getötet wurden, mitsamt den von ihnen panisch zusammengerafften Schätzen in den Kanälen der Hauptstadt ertranken.Die Überlebenden um Cortés stellten mit Hilfe der Stadtstaaten Tlaxcala und Huejotzingo eine neue Streitmacht auf, die wenige Monate später die Belagerung der Aztekenhauptstadt begann, diese schließlich Straße für Straße eroberte und am Ende dem Erdboden gleichmachte.
Die Azteken unter ihrem erst 18jährigen Führer Cuauhtémoc, der bis heute in Mexiko als Held verehrt wird, wehrten sich verzweifelt. Letztlich waren sie aber chancenlos im Kampf gegen Hunger, Masern, Windpocken und die mit den Spaniern verbündeten Nachbarstaaten.
Cortés verdankt die Miss- und Verachtung, die er im heutigen Mexiko genießt, nicht zuletzt seiner Erlaubnis, den gefangenen Cuauhtémoc zu foltern, um ihm Informationen über verborgene Schätze abzupressen. Dieser Schande ließ der “Konquistador” 1525 eine weitere folgen. Gestützt auf die fragwürdigen Anschuldigungen eines Überläufers zum Christentum ließ er Cuauhtémoc, der als Freiwilliger im Expeditionscorps nach Honduras diente, wegen Verrats anklagen: dieser wurde schuldig gesprochen und gehängt.
Dem Fall Tenochtitlans folgten binnen weniger Jahre die anderen mesoamerikanischen Völker und Kulturen. Auf und aus den Trümmern Tenochtitlans wurde die neue Hauptstadt Ciudad de México erbaut. Cortés, dessen Erfolg und Selbstherrlichkeit ihm zahlreiche Feinde am spanischen Hof eingebracht hatten, wurde von Karl V zwar zunächst zum Generalgouverneur und militärischen Oberbefehlshaber ernannt, den erhofften Adelstitel verweigerte er ihm jedoch.
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02. Gesellschaft und Religion der Kolonialzeit
Die Installation einer zivilen Kolonialverwaltung unter der Aufsicht sogenannter “oidores”, ziviler Richter mit weitreichenden legislativen und exekutiven Befugnissen, beschnitt den Einfluss der militärischen Eroberer.
Die territoriale Expansion der spanischen Kolonien wurde von einer massiven Missionierung der Indígenas begleitet.
Zuerst kamen die Franziskaner (1523 und 1524), die bis 1559 achtzig Missionen in Neuspanien gegründet hatten. Ihnen folgten die Dominikaner (1525), die Augustiner (1527) und schließlich die Jesuiten (1571). Insgesamt wurden während 300 Jahren spanischer Kolonialherrschaft in Mexiko rund 12.000 Kirchen gebaut.
Doch auch fanatische Ignoranten, wie der als Bücherverbrenner und Folterer in die Geschichte eingegangene Bischof von Yucatán, Fray Diego de Landa, gehörten zu den Vertretern der katholischen Kirche Spaniens in der Neuen Welt.
Letzterer ließ im Juli des Jahres 1652 in einer berüchtigten Zeremonie im yukatekischen Mani 5000 rituelle Figuren und 28 Handschriftenrollen verbrennen und vernichtete so wesentliche Teile der Geschichtsschreibung und Geschichte eines ganzen Volkes – der Maya Yucatáns.
1530 erhielt Nueva España den Status eines Vizekönigreiches, des sogenannten “virreinato”, in dem mit der “encomienda” eine Art Lehensherrschaft eingeführt wurde, die für einen Großteil der indianischen Bevölkerung faktische Leibeigenschaft bedeutete. Sie mussten entweder als Landarbeiter in den großen Haciendas und Plantagen, oder als Minenarbeiter in den großen Silberminen ihren Frondienst leisten. Dem ersten Vizekönig Antonio de Mendoza folgten bis zur Unabhängigkeit 1821 einundsechzig weitere.
Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, vor allem Gold, Silber und Mineralien, verhalf den Kolonien zu Wohlstand, der in zahllosen prächtigen Städten Ausdruck fand. Alleine durch den Ertrag der mexikanischen Silberminen verdoppelten sich die weltweiten Silbervorräte binnen zweier Jahrhunderte. Talentierte Steinmetze aus der indigenen Bevölkerung, die zuvor Pyramiden und Tempel gebaut hatten, schufen unter dem Diktat der neuen Herren Kathedralen, Klöster und Konvente, aber auch säkulare Bauten wie Regierungspaläste und Privatresidenzen.
Dieses architektonische Erbe macht heute einen Großteil der touristischen Anziehungskraft von Kolonialstädten wie Querétaro, San Miguel de Allende, Guanajuato, Morelia, Puebla, Taxco, Zacatecas und vielen anderen aus. Mit dem Wachsen der Kolonialgesellschaft hatte sich ein wohldefiniertes Kastensystem ausgebildet. In Spanien geborene Spanier, die peninsulares oder auch verächtlich gachupines genannt wurden, stellten die Oberschicht und besetzten die höchsten Ämter in Gesellschaft und Kirche. Den darunter angesiedelten criollos (in Mexiko geborene Kinder spanischer Eltern) blieben nur nachrangige Positionen in Kirche und Verwaltung, jedoch kamen sie häufig als Land– oder Minenbesitzer und als Geschäftsleute zu beträchtlichem Reichtum.
Ein eklatanter Frauenmangel in der Männergesellschaft der Conquistadores führte zu zahlreichen Verbindungen zwischen Spaniern und indigenen Frauen, aus denen oft illegitime Nachkommen, die mestizos, hervorgingen. Sie blieben über lange Zeit von Bildung und Wohlstand ausgeschlossen. Die unterste Stufe des sozialen Gefüges belegten die Indígenas.
Obwohl sie offiziell als Schutzbefohlene – sowohl der Kolonialregierung als auch der katholischen Kirche galten – wurden sie praktisch nur als Arbeitskräfte ausgebeutet. Wer von ihnen sich nicht zu Tode arbeitete, fiel eingeschleppten Krankheiten zum Opfer.
Windpocken, Masern oder auch einfache Erkältungen wurden zu Massenepidemien. In knapp achtzig Jahren war die einheimische Bevölkerung von neun Millionen auf knapp zweieinhalb Millionen dezimiert. Ihre Versklavung allerdings war Mitte des 16.Jahrhunderts vom zweiten Vizekönig verboten worden.
Das Verbot erstreckte sich nicht auf importierte afrikanische Sklaven, die nun den Arbeitskräftemangel ausgleichen sollten. Nicht im offenen Sklavenhandel, sondern über die Zwischenstation Sevilla, in der sie einer Zwangschristianisierung unterzogen wurden, wurden sie nach Mexiko gebracht. Sechs Afrikaner hatten als Sklaven schon an der Eroberung Mexikos “teilgenommen”. Mitte des 16. Jahrhunderts war die Zahl der Schwarzafrikaner in Mexiko dreimal größer als die der im Land lebenden Spanier.
Heute konzentrieren sich die größten Gemeinden von schwarzen Mexikanern an der Golfküste nahe Veracruz und an der Pazifikküste der Staaten Guerrero und Oaxaca.
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03. Die Wirtschaft während der Kolonialzeit
Die Wirtschaft des kolonialen Mexiko beruhte auf den drei Säulen Landwirtschaft, Handel und Gewerbe und Bergbau. Trotz geringer Gewinnspannen behielt die Landwirtschaft bis zum Ende der Kolonialzeit – und darüber hinaus – den weitaus größten Anteil an der Gesamtproduktion. Die Einfuhr neuer Nutzpflanzen, Haustiere, Arbeitsgeräte und Anbautechniken bewirkte einen Strukturwandel der Landwirtschaft, in dem Klöster vielfach Vorbildfunktion hatten. Von den Einheimischen wurden jedoch die meisten Neuerungen nur zögernd oder gar nicht übernommen. Während die in spanischer Hand befindlichen Ländereien für den Markt produzierten, blieb den Indigenas die Subsistenzwirtschaft auf kommunal genutzten Anbauflächen, den sogenannten “ejidos”.
Die Erschließung von Transportwegen beanspruchte eine große Zahl von Zug- und Lasttieren neben der sonstigen Groß- und Kleinviehhaltung, so dass schon früh ein Mangel an geeigneten Weideflächen auftrat. Überweidung und die Nutzung des europäischen Hakenpfluges auch in Hanglagen verschärften Erosionsschäden, die in Landschaften mit langen Trockenperioden und kurzen heftigen Regenzeiten immer auftreten, in verheerender Weise. Dennoch wurde die Weidewirtschaft zu einem wichtigen Agrarsektor und ist es bis heute in den Grasländern am Fuße Sierra Madre Occidental, von Aguascalientes bis Chihuahua, sowie im Osten des zentralen Hochlandes geblieben. Anfangs spielten Tierhäute und die Talgproduktion für Kerzen die Hauptrolle neben der (Trocken-) Fleischproduktion, die Milchwirtschaft hatte aufgrund der leichten Verderblichkeit keine Bedeutung.Der Zuckerrohranbau wanderte im 16.Jahrhundert von den Antilleninseln nach Mexiko, die Anbauflächen in Veracruz und in den Becken von Morelos und Puebla machten Mexiko gegen Ende des Jahrhunderts zum größten Zuckerproduzenten des spanischen Weltreiches. Wichtige Exportgüter waren auch die einheimischen Pflanzen Kakao, Vanille und Tabak.
In trockenen Gegenden – vor allem im Becken von Oaxaca – wurden auf Nopales-Kakteen Schildläuse zur Gewinnung eines karminroten Farbstoffes gezüchtet, der bis zur Einführung synthetischer Farbstoffe sehr begehrt war. Die Cochenille genannten Läuse waren im 17. und 18. Jahrhundert zweitwichtigstes Exportgut Mexikos, nach Silber und vor Indigo, dessen Pflanzen überwiegend in Yukatan angebaut wurden, ähnlich dem nach seinem Hauptexporthafen Sisal an der Westküste Yukatans benannten Henequén.Die spanische Monopolpolitik verbot den Anbau wichtiger Kulturpflanzen des Mutterlandes wie Wein und Ölbaume, obwohl diese in Mexiko gute Standortbedingungen gehabt hätten.
Verbote galten auch für die meisten Industriewaren, lediglich einige Manufakturen zur Herstellung von Stoffen und Decken – auf spanischen Webstühlen gewebt – wurden geduldet.
Die neu entstehenden Verwaltungseinheiten wurden zu territorialen Vorläufern der späteren mexikanischen Staaten. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs – vor allem im Handel – der mit Dezentralisierung und der Lockerung zahlreicher Vorschriften verbunden war, blieb Neuspaniens Verkehrswesen weit hinter den Notwendigkeiten zurück.
Überfälle durch Wegelagerer – vor allem im Norden – gefährdeten die Transportwege zu Lande, während die Häfen entlang der Küsten regelmäßig von Piraten überfallen wurden. Der Binnenhandel war nicht im Stande, Engpässe, die aufgrund von Dürren, Missernten usw. entstanden, auszugleichen. Einer verheerenden Hungersnot in den Jahren 1785/86 fielen 300.000 Menschen zum Opfer.
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04. Der Kampf um die Unabhängigkeit und seine Helden
Vicente Guerrero, liberaler Rebell, übernahm das Vermächtnis der Hidalgo und Morelos und führte den revolutionären Kampf gegen die Spanier fort, bis diese 1824 entmachtet wurden und mit Guadalupe Victoria ein Liberaler zum ersten gewählten Präsidenten der Republik Mexiko wurde.
Zu diesem Zeitpunkt umfasste das mexikanische Territorium die südwestlichen Staaten der USA Kalifornien, New Mexico, Texas, Arizona, Colorado, Nevada, Utah und Teile des heutigen Kansas, das heutige Mexiko und ganz Zentralamerika.
Nach den Helden der Unabhängigkeit und ihrer regionalen Herkunft wurden drei der mexikanischen Staaten, Guerrero, Hidalgo und Morelos genannt.
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05. Das 19. Jahrhundert gehört drei Männern
Die beinahe ein Jahrhundert dauernde Phase der mexikanischen Geschichte, die zwischen der Unabhängigkeit (1821) und der mexikanischen Revolution von 1910 lag, lässt sich in drei Phasen unterteilen, die – ordnete man sie den prägenden Figuren der jeweiligen Ära zu – mit den Namen General Santa Ana, Präsident Benito Juárez und dem Diktator Porfirio Díaz verknüpft sind.
Doch den Beginn der mexikanischen Unabhängigkeit prägte ein Kaiser für zehn Monate, Agústin de Iturbide oder Agústin I. Hatte Vicente Guerrero nach der Hinrichtung der Führer Hidalgo und Morelos mit seinen Guerilla-Attacken den völligen Untergang der Insurgenten (Aufständischen) noch verhindert, vollzog die mexikanische Unabhängigkeitsbewegung um 1820 einen merkwürdigen Wandel: unter dem Eindruck eines Staatsstreiches der Liberalen gegen die Monarchie in Spanien, in dem die konservative Oberschicht Mexikos eine Gefahr für den eigenen sozialen und ökonomischen Status Quo sah, sprachen sich die Konservativen – vormals stramme Royalisten – für die sofortige Unabhängigkeit von Spanien aus.Iturbide hatte als Führer der royalistischen Truppen Valladolid gegen die Aufständischen unter Morelos verteidigt und diesen einen entscheidenden Schlag versetzt. Nun vereinigte er seine reaktionären Truppen mit den radikalen Einheiten Guerreros.
Am 24. Februar 1821 wurde der Plan von Iguala veröffentlicht, der drei Garantien enthielt, unter denen sich die liberalen und konservativen Truppen (“ejército trigarante”) vereinten:
1. Mexiko sollte zur unabhängigen Monarchie werden, an deren Spitze ein europäischer Prinz, oder für den Fall, dass kein Europäer gefunden werden würde, ein Mexikaner stehen sollte;
2. die katholische Kirche sollte ihre Privilegien und Macht behalten;
3. die Kreolen sollten den spanischstämmigen “gachupines” sozial gleichgestellt werden. Dieser Plan fand bei allen einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen Mexikos Zustimmung, ignorierte aber die Interessen der unteren sozialen Schichten vollständig. In diesem Punkt unterschied sich denn auch die mexikanische Unabhängigkeitsbewegung von der südamerikanischen unter Simon Bolívar.
Der letzte spanische Vizekönig, Juan O’Donojú, gab dem Druck nach und unterzeichnete den Vertrag von Córdoba (im mexikanischen Bundesstaat Veracruz), in dem sich Spanien zum Rückzug seiner Truppen verpflichtete. Obwohl die spanische Regierung dies nicht anerkannte, war Mexiko nun unabhängig und hatte mit der prunkvollen Krönung Iturbides einen gleichermaßen extravaganten wie unfähigen Kaiser installiert.
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05.1 Antonio López de Santa Ana
Der 1794 in Jalapa geborene Antonio López de Santa Ana sollte zu einer der schillerndsten Figuren der mexikanischen Geschichte werden. Seine wechselvolle militärische Karriere begann noch in der spanischen Armee, in der er es zum Hauptmann brachte. Er kämpfte auf beiden Seiten jedes politischen Konfliktes seiner Zeit. So unterstützte er zunächst Iturbide im mexikanischen Unabhängigkeitskrieg, um sich wenig später an seinem Sturz zu beteiligen, kämpfte dann mit Guerrero und war auch an dessen Absetzung beteiligt.
Breites Ansehen und den Beinamen “Held von Tampico” trug ihm sein Erfolg gegen die spanischen Truppen und deren Versuch einer Rückeroberung der abtrünnigen Kolonie ein. Von der Welle dieses militärischen Erfolges wurde Santa Ana als Föderalist und Gegner der katholischen Kirche 1833 ins Präsidentenamt getragen, das er jedoch bald an seinen Stellvertreter abgab, um sich auf seine Hacienda nahe Veracruz zurückzuziehen. 1836 machte sich Santa Ana daran, in Texas Geschichte zu schreiben. Er befehligte die Strafexpedition gegen die abtrünnigen Siedler von Alamo, die er vernichtend schlug, um wenig später selbst Sam Houstons Truppen in die Hände zu fallen, während er – ohne Wachposten aufgestellt zu haben – unter einem Baum am San Jacinto Fluss Siesta hielt. Er wurde nach Washington gebracht, wo er ein Abkommen unterzeichnen musste, das die Unabhängigkeit Texas’ garantierte und Mexiko den Verlust eines riesigen Territoriums einbrachte. In Schande und verbittert kehrte Santa Ana nach Mexiko und auf seine Hacienda zurück.1838 brachte ein aberwitziger Krieg, der “Guerra de los Pasteles” oder “Kuchenkrieg”, Santa Ana wieder ins Geschäft: ein französischer Bäcker erhob den Vorwurf, sein Laden in Mexiko Stadt sei von Soldaten geplündert worden, und die mexikanische Regierung schulde ihm eine Kompensation. Hinter ihm stand die französische Regierung, die Mexiko zu einem Handelsabkommen zwingen wollte und nicht davor zurückschreckte, Veracruz zu bombardieren. Während der Verteidigung verlor Santa Ana seinen linken Unterschenkel, gewann aber als begnadeter Selbst-Inszenator neuen militärischen Ruhm als Held von Veracruz, der das Debakel von San Jacinto vergessen machte.
1841 beschloss Santa Ana, persönlich die Macht zu übernehmen und zog stilgemäß in einer von vier weißen Pferden gezogenen Luxuskutsche in Mexiko-Stadt ein. Massive Steuererhöhungen und der Verkauf wertloser Minen-Anteile an ausländische Investoren sorgten vorübergehend für steigende Einnahmen, die jedoch prompt durch ausladende Feierlichkeiten und andere Extravaganzen aufgebraucht waren. Als die Geldquellen versiegten und seine Armee vergeblich auf ihren Sold wartete, trieb ihn eine Rebellion 1845 zunächst in die heimischen Berge und schließlich ins kubanische Exil, verbunden mit der Auflage, dem mexikanischen Territorium mindestens 10 Jahre lang fern zu bleiben. Zu dieser Zeit hatte Santa Anna gerade sein zweite Frau, die 15 jährige María Dolores Tosta geheiratet.
Santa Ana benötigte gerade mal ein Jahr, um den damaligen US-Präsidenten James K. Polk davon zu überzeugen, dass er der Einzige sei, dem es gelingen könnte, den Streit zwischen den USA und Mexiko über Texas beizulegen und den us-amerikanischen Interessen am Erwerb mexikanischen Territoriums entgegenzukommen. Unter dem Geleitschutz amerikanischer Kriegsschiffe kehrte Santa Ana nach Veracruz zurück. Kaum hatte der Rückkehrer einen Fuß an Land gesetzt, begann er, den Widerstand gegen die Annexion Texas’ durch die USA zu organisieren. Wie es das Schicksal wollte, war zu diesem Zeitpunkt gerade Santa Anas ehemaliger Vizepräsident Valentín Gómez Farías an der Macht. Dieser ernannte Santa Ana prompt zum Generalissimo der mexikanischen Streitkräfte. Die unvermeidliche Niederlage gegen die gut organisierten und ausgerüsteten US-Truppen im mexikanisch-amerikanischen Krieg, der mit der Einnahme von Mexiko-Stadt endete, kostete Mexiko annähernd die Hälfte seines Territoriums und wurde Santa Ana angelastet. So ging dieser 1848 erneut ins Exil – zunächst nach Jamaika und anschließend nach Kolumbien. Hier baute er sich einen neuen Besitz auf und wartete, dass seine Landsleute Mexiko so weit heruntergewirtschaftet haben würden, dass man ihn erneut “rufen” werde.
Schon 1853 war es soweit: Santa Ana kehrte als “Übergangsdiktator” nach Mexiko zurück.
Dort hatten im Januar des Jahres erneut die Konservativen die Macht übernommen und ihre alte Idee, einen europäischen Prinzen als mexikanischen König zu installieren, wieder aufgegriffen. Für die Übergangszeit erschien Santa Ana als der geeignete Mann, um angesichts der witschaftlichen Dauerkrise die Ruhe im Land mit militärischen Mitteln zu sichern. Als mit Alamán der Initiator dieses riskanten Plans im Juni starb, geriet Santa Ana ausser Kontrolle: erneut ruinierte er die Staatsfinanzen mit seinen Extravaganzen. Akute Geldnot verleitete ihn schließlich dazu, einen kleinen Teil des mexikanischen Territoriums an die verhassten USA zu verkaufen. Einer Junta von Liberalen, unter ihnen der junge Benito Juárez, gelang es daraufhin, ausreichenden Widerstand gegen Santa Ana zu organisieren, um ihn 1854 erneut ins Exil zu schicken.
Als der Habsburger Erzherzog Maximilian mit französischer Unterstützung das mexikanische Empire regierte, kehrte Santa Ana zunächst 1864 und 1867, erneut mit us-amerikanischer Unterstützung, tatsächlich in sein Heimatland zurück, wo er sich Juárez, den er einst verhaftet hatte, als Kampfgenosse gegen Maximilian anbot. Juárez lehnte ab und schickte Santa Ana prompt ins kubanische Exil zurück. Erst nach Juárez’ Tod wurde dem 79 Jährigen die endgültige Rückkehr nach Mexiko gestattet. Nachdem er erfolglos eine staatliche Pension aufgrund seiner Verdienste um das Land gefordert hatte, war der mittlerweile verarmte Santa Ana bis zu seinem Tod von den finanziellen Zuwendungen seiner Freunde und Verwandten, vor allem seines Schwiegersohnes, abhängig.
Santa Ana hat in seinem Leben mehr Schlachten geschlagen als Napoleon und Georg Washington zusammen, die wenigsten von ihnen gewonnen, war elfmal Präsident oder Diktator des bis 1836 zweitgrößten Landes der Welt, verursachte den Verlust der Hälfte des mexikanischen Staatsgebietes, wurde regelmäßig ins Exil verbannt, wo er alles in allem 20 Jahre seines Lebens verbrachte, um schließlich hochbetagt im Bett zu sterben.
Er war eine der ambivalentesten Persönlichkeiten der mexikanischen Geschichte, aber nicht das blutrünstige Monster, zu dem ihn seine politischen und militärischen Gegner gerne stilisierten.
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05.2 Benito Juárez
Benito Juárez kam 1819 als 13jähriger Waise aus einer armen Schafhirten-Familie nach Oaxaca, wo er und seine Schwester Rosa im Haus der Familie Maza aufgenommen wurden.
In Antonio Salanueva fand einen tief religiösen Förderer, der den Jungen neben Lesen, Schreiben und Mathematik auch in Buchbinderei unterrichtete. Dann schickte er Benito Juárez auf das Franziskaner–Seminar von Oaxaca, um ihn zum katholischen Geistlichen ausbilden zu lassen. Juárez absolvierte zwar das Seminar, jedoch nur, um sich endlich dem ersehnten Jurastudium widmen zu können. Bereits vor Abschluss des Studiums 1834 hatte sich Juárez als Ratsherr von Oaxaca für die Rechte der indigenen Bevölkerung eigesetzt. 1841 zum Richter berufen, wurde er als überzeugter Liberaler zum Gouverneur des Staates Oaxaca ernannt, ein Amt, das er von 1847-52 innehatte.Die “Interimsdiktatur” Santa Anas 1853/54 verbrachte er gemeinsam mit seinen liberalen Weggefährten Melchor Ocampo und José Guadalupe Montenegro im Exil. Juárez schlug sich als Arbeiter in einer Zigarrenfabrik in New Orleans durch. Im Exil wurde er Mitglied einer revolutionären Junta, deren Truppen am 14. November 1854 in Mexiko Stadt einmarschierten. Unter dem Präsidenten Alvarez wurde Juárez Justizminister und Namenspatron eines Gesetzes, das die Immunität des Klerus aufhob und die Zuständigkeit der katholischen Gerichtsbarkeit auf kirchliche Angelegenheiten begrenzte. 1856 kehrte Juárez als Gouverneur nach Oaxaca zurück. Eine Verfassungsänderung von 1858 beschnitt die Macht der katholischen Kirche weiter, indem sie deren Religionsmonopol aufhob.
Alle Staatsbediensteten und Militärangehörigen mussten von nun an einen Eid auf die Verfassung leisten, was zum offenen Machtkampf mit der katholischen Kirche führte.
Diese bedrohte jeden, der diesen Eid leisten würde, mit Exkommunikation. Ein weiterer, für Juárez’ politische Karriere bedeutungsvoller Aspekt der neuen Verfassung war die Abschaffung des Amtes eines Vizepräsidenten. Bei Tod oder Abwesenheit des Präsdidenten übernahm nun der Präsident des Obersten Gerichtshofes die Amtsgeschäfte bis zu den nächsten Wahlen.
Die Verfassung wurde gegen den Widerstand der Konservativen verabschiedet. Aus den anschließenden Wahlen ging der gemäßigte Liberale Comonfort als Sieger hervor, Juárez wurde Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs und damit zum Stellvertreter des Präsidenten. Als Comonfort in einem konservativen Putsch von General Zuloaga gestürzt wurde, hatten sich die Liberalen in Querétaro bereits zur Verteidigung von Verfassung Reformen formiert: Sie ernannten Juárez zum verfassungsmäßigen Präsidenten der Republik.
Aus dem immer wieder aufflammenden Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen wurde daraufhin ein offener, blutiger Bürgerkrieg, dem beinahe auch Juárez selbst zum Opfer gefallen wäre. In Guadalajara war er in die Hände konservativer Truppen und vor ein Erschießungskommando geraten, als sich in letzter Sekunde der Dichter Guillermo Prieto vor Juárez gestellt und gerufen haben soll: “Tapfere Männer morden nicht!”. Die Soldaten senkten ihre Gewehre und Benito Juárez entkam…
Als sich die liberalen Kräfte schließlich durchgesetzt hatten, zog Benito Juárez am 1.Januar 1861 triumphal in Mexiko-Stadt ein, wo er wenige Monate später mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde.
Die Kosten des Krieges zwangen ihn dazu, die Zahlung der mexikanischen Auslandsschulden auszusetzen. Die europäischen Gläubiger-Staaten Frankreich, Großbritannien und Spanien sandten umgehend eine Strafexpedition nach Mexiko und eroberten Veracruz. Nach dem Bekanntwerden des französischen Plans, in Mexiko mit Zustimmung der konservativen Kreise eine Marionettenregierung zu installieren, zogen sich Spanien und Großbritannien zurück.
Napoleon III gelang es trotz der Niederlage seiner Truppen bei Puebla, den Habsburger Erzherzog Maximilian als mexikanischen Kaiser zu installieren. Juárez ließ die Hauptstadt evakuieren und zog sich in den Norden zurück, von wo er den Widerstand gegen diesen Versuch, Mexiko zu rekolonialisieren, organisierte. Nach dem Ende des us-amerikanischen Bürgerkriegs wuchs die militärische Unterstützung der USA für Juárez, Frankreich zog daraufhin seine Truppen ab und überließ Maximilian seinem Schicksal.
Die letzten Amtsjahre des bis heute als Nationalheld und großer Reformer verehrten Juárez galten der Restauration der Republik, der Sicherung der hart erkämpften nationalen Einheit, der Stärkung der von Mexiko-Stadt ausgehenden Zentralgewalt zu Lasten regionaler Caciquen (politisch-militärische Führer), der wirtschaftlichen und technologischen Modernisierung des Landes, sowie der Neuordnung des Schulwesens. Die Reduzierung des Militärs auf ein Drittel seiner vorigen Stärke sollte die politische Stabilität des Landes fördern und die immensen Militärausgaben senken.
Das daraus resultierende Potenzial arbeitsloser und verbitterter ehemaliger Soldaten und Offiziere machte sich schließlich Juárez’ Gegenspieler, General Porfirio Díaz, zunutze…
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05.3 Porfirio Díaz
Porfirio Díaz (1830–1915) hatte die Liberalen um Juárez sowohl während des Reformkrieges, als auch im Widerstand gegen den Marionettenkaiser Maximilian unterstützt. Die Biographien beider, des Präsidenten Juárez und des späteren Langzeit-Diktators Díaz, weisen erstaunliche Parallelen auf: Beide stammen aus Oaxaca, wurden an der selben katholischen Schule erzogen, um anschließend Jura zu studieren, und auch Díaz hatte als Mestize indianische Vorfahren.
Díaz hatte seine politischen Ambitionen erstmals deutlich gemacht, als er im Präsidentschaftswahlkampf von 1871 gegen Juárez und Lerdo de Tejada angetreten und unterlegen war. Lerdo de Tejada, der nach Juárez’ Tod die Präsidentschaft übernommen hatte, kandidierte auch bei den folgenden Wahlen 1876.
Daraufhin mobilisierte Díaz, unter den vorgeschobenen Forderungen nach mehr Demokratie auf kommunaler Ebene und nach einem Verbot der Wiederwahl des Präsidenten, enttäuschte Truppenteile zu einer Revolte.
Als es Díaz nach anfänglichen Rückschlägen gelungen war, die Macht an sich zu reißen, war wohl den wenigsten bewusst, dass er sie für die nächsten 34 Jahre nicht mehr loslassen würde.
Lediglich nach dem Ablauf seiner ersten Amtszeit ließ er mit Manuel González dem inkompetentesten und zugleich korruptesten seiner Minister vorübergehend den Vortritt, um sein Wahlversprechen, nicht für eine Wiederwahl zu kandidieren, oberflächlich einzulösen. Porfirio Díaz regierte entschlossen und mit äußerster Brutalität. Sein Programm der wirtschaftlichen Modernisierung, die Mexiko tatsächlich dringend benötigte, basierte nach innen auf der Unterdrückung sozialer Unruhen und der Schaffung eines “positiven Investitionsklimas” für ausländische, überwiegend us-amerikanische Investoren. Das Problem der marodierenden Banden, die für zahllose Überfälle auf Warentransporte und Viehherden verantwortlich waren, löste er kurzerhand, indem er sie in eine neugeschaffene Landpolizei, die gefürchteten “Rurales” integrierte, deren Aufgabe es vor allem war, lokale Bauernaufstände, Streiks und andere Erhebungen der Bevölkerung niederzuschlagen.
Geschickt und ohne Skrupel betrieb er seine Politik des Teile-und-herrsche, indem er die einflussreichsten Gruppen, Hacenderos, katholischer Klerus und die städtischen Eliten, gegeneinander ausspielte, um sich selbst dann als Vermittler zu inszenieren.
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06. Das 20. Jahrhundert beginnt mit einer Revolution
- Francisco Madero (Maderismo)
- Francisco “Pancho” Villa (Villismo)
- Emiliano Zapata (Zapatismo)
- Venustiano Carranza und der Constitucionalismo
Entscheidend für den Ausbruch der Mexikanischen Revolution war die enorme Konzentration von Landbesitz, die während der Díaz-Diktatur, dem sogenannten Porfiriat, stattgefunden hatte.
Bei Ausbruch der Revolution 1910 waren 90% der Landbevölkerung landlos, während 1% der Bevölkerung über 96% des Bodens verfügte. Die großen Haciendas fraßen immer mehr Land und zwangen ehemalige Kleinbauern in die Schuldknechtschaft. Trotz blutig niedergeschlagener Streiks von Industriearbeitern waren letztlich die landlosen Bauern mit ihren Forderungen nach “Land und Freiheit” und damit nach einer Agrarreform, die treibende Kraft hinter der mexikanischen Revolution.
Geographisch geteilt waren es im Süden die indianischen Dorfgemeinschaften um Emiliano Zapata und im Norden die Kleinbauern um Pancho Villa und Pascual Orozco, die die Revolutionstruppen stellten. Fancisco Madero stand als Liberaler, dem es vor allem um politische und institutionelle Reformen ging, an der Spitze der Bewegung.
In der ersten Phase der Revolution waren die verschiedenen revolutionären Gruppierungen geeint in ihrer Opposition gegen den greisen Díaz.
Die Schlacht von Ciudad Juárez im Mai 1911 besiegelte dessen Schicksal und zwang ihn wenig später ins Exil. Gleichzeitig erwuchs Madero aber ein Feind aus den eigenen Reihen: Pascual Orozco. Dieser hatte sich, ebenso wie Pancho Villa, für die Exekution des Kommandanten von Ciudad Juárez, General Navarro, ausgesprochen, da dieser den Festungstruppen Befehl gegeben hatte, inhaftierte Rebellen mit dem Bajonett zu töten. Madero setzte sich in einer erregten Auseinandersetzung erfolgreich für die Freilassung des 80jährigen Kommandanten ein. Orozco wandte sich bald offen gegen Madero. Im März 1912 führte er militärisch eine Konterrevolution gegen Madero an, die von den Viehbaronen Chihuahuas, unter ihnen auch Randolph Hearst, finanziert und mit Waffen versorgt worden war. Maderos Sturz sollte die drohende oder vermutete Beschlagnahme ihrer ausgedehnten Ländereien verhindern. In dieser Situation griff Madero auf einen der dunkelsten Figuren der mexikanischen Geschichte zurück: General Victoriano Huerta, ein verräterischer Intrigant, der zum gefährlichen Despoten werden sollte…
Doch zunächst brachte eben dieser Huerta, als Maderos General, den Anhängern Orozcos Niederlage um Niederlage bei.
Als Madero dem General eine Kostenaufstellung seiner militärischen Kampagne abverlangte, zog sich dieser mit dem erbosten Hinweis, er sei schließlich kein Buchhalter, ins Zivilleben zurück, um sich insgeheim dem Sturz Maderos zu verschreiben.
Der Umsturz war sorgfältig und mit tatkräftiger Unterstützung des us-amerikanischen Botschafters Henry Lane Wilson, einem Strohmann des US-Kapitals und einer der zwielichtigsten Figuren der US-Diplomatie, geplant. Sogenannte “Rebellen” unter dem Díaz-Neffen Félix Díaz inszenierten Scheingefechte in Mexico Stadt, um eine Atmosphäre der Gewalt und des Terrors zu schaffen. Gleichzeitig griffen andere Einheiten die loyalen Madero-Truppen an. Madero selbst traf, nachdem sein loyaler General Villar verwundet worden war, eine fatale Entscheidung: Er machte den insgeheim mit den Konterrevolutionären paktierenden Huerta zum Kommandanten seiner Verteidigungs-truppen. Am 18. Februar 1913 gelang es Huerta, Madero zu verhaften. Wenige Tage später, am 22. Februar, ließ er ihn während eines Transports zu einem Gefängnis von einem der Bewacher ermorden. Huerta war zuvor von Botschafter Wilson indirekt zu dieser Tat aufgefordert worden. Nach diesen “zehn tragischen Tagen” (la decena trágica) des Februars, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten und große Zerstörungen in der Hauptstadt anrichteten, übernahm Huerta die Macht, die er für ein Jahr, unter Einsatz brutalster Mittel, halten konnte.
Doch die Revolution “von unten” ging weiter. Die regionalen Bewegungen im Norden und Süden nahmen an Intensität zu.
Obwohl die Namen Francisco Villa und Emiliano Zapata oft in einem Atemzug genannt werden, unterschieden sich deren revolutionäre Bewegungen in wesentlichen Punkten. Die Anhänger des “Villismo” stellten eine sozial heterogene Gruppe aus Industriearbeitern, Viehhirten, Eisenbahnarbeitern und landloser Bevölkerung dar, deren Interessen sich nicht in einem Programm bündeln ließen. Der Katalog der Forderung reichte von der Verstaatlichung der Eisenbahnen über die Verbesserung der Lebensbedingungen von Industriearbeitern bis zu Forderungen nach einer Beschlagnahme und Neuverteilung von nicht kultiviertem oder staatlichem Land. Ungeachtet ihrer programmatischen Defizite verfügte die Bewegung mit der “Ejercito del Norte” jedoch über eine schlagkräftige Armee, die zahlreiche militärische Erfolge erzielen konnte.
Im Unterschied zum Norden, in dem die indianische Landbevölkerung kaum mehr exisitierte, war der “Zapatismo” des Südens letztlich die Fortsetzung des jahrhundertelangen Kampfes um indigene Landrechte und gegen die Privatisierung von “ejidos”, der kommunal genutzten Anbauflächen. Zapatas Anhänger hatten im Plan von Ayala die Rückgabe geraubter Ländereien an die indianischen Dorfgemeinschaften und die Enteignung derjenigen Haciendas gefordert, deren Besitzer Gegner der Revolution waren. Die starke regionale und bäuerliche Ausrichtung der Bewegung verhinderte aber sowohl die Integration anderer ausgebeuteter Bevölkerungsgruppen in die eigene politische Programmatik, als auch die Schaffung einer schlagkräftigen Armee. Alle militärischen Aktionen der Revolutionsbewegung des Südens blieben auf die Ebene eines Guerillakrieges begrenzt.
Die Allianz der Huerta-Gegner um Venustiano Carranza zerfiel mit dem militärisch erzwungenen Exil des Despoten, ihre politischen Gemeinsamkeiten hatten sich erschöpft.
Die Kräfte um Carranza (Constitucionalistas), die wie zuvor Madero lediglich für politisch institutionelle Reformen und die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1857 gekämpft hatten, sahen die Revolution als beendet an. Ein Bürgerkrieg innerhalb des Revolutionslagers begann. Die Ansprüche der mobilisierten bäuerlichen Massen wurden politisch gespalten und militärisch niedergeschlagen. Zunächst brachte Carranza durch graduelle Zugeständnisse einen Teil der Bauern auf seine Seite. (Dekret über die Agrarreform im Januar 1915). Unter dem Druck der Agrarrevolutionäre näherte er sich dann der Arbeiterbewegung an. Es kommt zu einem Bündnis zwischen den städtischen Arbeitern und den bürgerlichliberalen Konstitutionalisten. In den “Roten Bataillonen” bekämpften die Arbeiter die Zapatisten und Pancho Villa. Nachdem die Gefahr durch die Agrarbewegungen militärisch gebannt war, wandte sich Carranza gegen die städtischen Arbeiter und ihre Ansprüche. Als Ende 1916 eine verfassunggebende Versammlung in Querétaro einbrufen wurde, repräsentierte diese die Besitzenden. Die aus ihr hervorgehende Verfassung bedeutete einerseits eine Festlegung auf ein bürgerlich-kapitalistisches Mexiko, andererseits bewirkte der Druck der Agrarbewegung mit Streiks und Demonstrationen während der Verhandlungen die bis dahin konsequenteste und fortschrittlichste Verfassung der Welt. Besonders drei Artikel spiegeln dies wider:
Artikel 3 vollzog die völlige Trennung von Staat und Kirche und garantierte eine säkulare und kostenlose Grundschulbildung; Artikel 27 regelte die Nationalisierung der Bodenschätze und schuf die Verfassungsgrundlage für eine Agrarreform; in Artikel 123 schließlich wurde eine umfangreiche Sozialgesetzgebung festgelegt und das damals progressivste Arbeitsrecht festgeschrieben. Zu den Neuerungen gehörte u.a. das Verbot von Kinderarbeit, der Achtstundentag, die Einführung eines wöchentlichen Ruhetags, das Recht zur Gründung von Gewerkschaften und zur Durchführung von Streiks, Mutterschutz, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, ungeachtet von Geschlecht oder Nationalität.
Als Venustiano Carranza 1917 nachträglich als Präsident legitimiert wurde, hatte sich der Flügel der Konstitutionalisten endgültig durchgesetzt und machte schnell deutlich, dass er nicht gewillt war, die sozialpolitischen Forderungen der Verfassung umzusetzen. Stattdessen wurde die agrarrevolutionäre Bewegung um Zapata noch entschiedener unterdrückt.
Der Revolutionsführer selbst wurde schließlich von einem der Generäle um Carranza in eine Falle gelockt und am 10.April 1919 ermordet.
Um mit Ignacio Bonillas, einem in den USA ausgebildeten Zivilisten, seinen eigenen Kandidaten für die Nachfolge durchzusetzen, startete Carranza eine massive Einschüchterungskampagne gegen die Obregón-Anhänger, beschuldigte sie der Verschwörung und schickte Truppen nach Sonora.
Die Provinzregierung Sonoras entzog Carranza daraufhin ihre Anerkennung und Obregón entging seiner Verhaftung nur knapp. Ende April 1920 riefen führende Obregonisten im Plan von Agua Prieta offen zum Sturz Carranzas auf.
Dessen Niedergang vollzog sich daraufhin in atemberaubendem Tempo. Bereits am 7.Mai floh er mit seinen engsten Gefolgsleuten im “goldenen Zug” aus der Hauptstadt. Der Zug verdankte seinen Namen einem Großteil des Nationalschatzes, mit dem er beladen war. Rebellentruppen zwangen Carranza, den Zug zu verlassen und seine Flucht auf sich allein gestellt fortzusetzen. Ein lokaler Indianerführer, der Carranza Schutz zugesagt hatte, verriet ihn, und am 20.Mai 1920 wurde der Gestürzte ermordet.
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07. Die Sonorenser an der Macht
Alvaro Obregón
Alvaro Obregón, der im September zum Präsidenten gewählt wurde, erwies sich als Pragmatiker. Nach zehn Jahren blutigen Bürgerkrieges lag Mexiko am Boden. Obregóns Regierung war den Interessen der Arbeiter verpflichtet, ohne ausländische Investoren zu vernachlässigen. Obwohl zehnmal mehr Land an landlose Kleinbauern verteilt wurde, als unter Carranza, unterschied sich Obregón von den Radikalen in seiner Regierung dadurch, dass er die Landverteilung an eine Unterweisung der Bauern in zeitgemäße Anbautechniken knüpfte. Gegenüber der katholischen Kirche verhielt sich Obregón zurückhaltend. Obwohl er selbst antiklerikal eingestellt war, wurden die anti-kirchlichen Gesetze der Verfassung in stark religiös geprägten Regionen nicht oder nur ansatzweise umgesetzt. Obregóns mutigste Initiative galt der Bildungs- und Kulturpolitik. Unter dem legendären Bildungsminister José Vasconcelos gab es erstmals gezielte Alphabetisierungskampagnen unter der ländlichen Bevölkerung. Mehr als 1000 Schulen, in denen Lehrer die Kinder der indigenen Bevölkerung unterrichteten, wurden gegründet.Vasconcelos gab mit seiner Politik auch den Impuls zur Muralisten-Bewegung der Maler Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und Gerardo Murillo (“Dr. Atl”). Sie trugen dazu bei, ein ideologisch überhöhtes Nationalbewusstsein zu schaffen, das die indianischen Traditionen einbezog.
Plutarco Elias Calles
Nach Ablauf seiner vierjährigen Amtszeit wurde mit Plutarco Elias Calles ein weiterer Sonorenser Obregóns Nachfolger. Er setzte die Reformen mit neuen Akzenten wie der öffentlichen Gesundheitsversorgung fort, war aber im Unterschied zum pragmatischen Obregón ein geradezu fanatischer Anti-Katholik, der den offenen Machtkampf mit dem Klerus suchte. Auf die Schließung von Klöstern, die Ausweisung ausländischer Ordensangehöriger und die Verstaatlichung kichlicher Gebäude und Einrichtungen reagierte die Kirche mit drastischen Maßnahmen, z.B. verweigerte sie den Gläubigen die Sakramente.
Ein blutiger Aufstand, die sogenannte Cristero Rebellion, begleitete vor allem in den nordwestlichen Bundesstaaten die politische Auseinandersetzung. Bewaffnete, fanatische Katholiken, die überwiegend der bäuerlichen Bevölkerung angehörten, zerstörten Regierungseinrichtungen wie Eisenbahnlinien und Schulen und töteten Lehrer und Soldaten. Erst nach drei Jahren und 50.000 Toten gelang es in Geheimverhandlungen, den Konflikt beizulegen, ohne dass jedoch die mexikanische Regierung ihre antiklerikalen Verordnungen und Gesetze zurücknahm…Entgegen der Maxime, dass die Wiederwahl eines Präsidenten nicht zulässig sei, trat Alvaro Obregón 1928 erneut zur Wahl an, indem er dieses Verbot nur auf aufeinander folgende Wahlperioden bezog. Obregón wurde wieder gewählt, was niemanden überraschte, denn der Sonorenser hatte eine – gemessen an der Ausgangssituiation – durchaus erfolgreiche Amtszeit vorzuweisen. Er sollte jedoch seine zweite Amtseinführung nicht mehr erleben. Als Alvaro Obregón am 17.Juli mit einigen Abgeordneten in einem Gartenrestaurant in Guanajuato saß, kam ein junger Mann auf ihn zu, um ihm als Straßenkünstler, der er scheinbar war, seine Zeichnungen zum Kauf anzubieten.
Als der Präsident nach dem Skizzenblock des Künstlers griff, zog dieser eine Pistole und feuerte fünfmal in Obregóns Gesicht.
Damit war der 48Jährige der Letzte der revolutionären Generation, der gewaltsam ums Leben kam. José de León Toral, ein unter dem manipulativen Einfluss einer Nonne stehender religiöser Fanatiker, glaubte, in Obregón den Antichristen getötet zu haben.
Nach Obregóns Tod wurde mit Emilio Portes Gil ein Interimspräsident ernannt, faktisch bestimmte jedoch Elias Calles, der Jefe Máximo de la Revolución die Geschicke des Landes. Calles blieb auch während der Amtszeit der Präsidenten Pascual Ortiz Rubio und Abelardo L. Rodríguez der mächtige Mann im Hintergrund. 1929 wurde auf seine Initiative die offizielle Revolutionspartei, der Partido Nacional Revolucionario (PNR) gegründet, die 1939 zunächst in Partido de la Revolución Mexicana (PRM) umbenannt wurde und 1946 ihren heutigen Namen Partido Revolucionario Institucional (PRI) erhielt. Diese Staatspartei kontrollierte die regionalen Revolutionseliten, die aus den Umwälzungen zu Beginn des 20.Jahrhunderts hervorgegangen waren. Gemeinsam mit der zivilen Kontrolle des Militärs und den regierungsgelenkten Massenorganisationen bildete der PRI von nun an die Grundlagen des korporativen Staates, wie er auch für andere lateinamerikanische Länder typisch ist. Mit gezielten Zugeständnissen wurden die Gewerkschaft Confederación de Trabajadores de México – CTM und der Bauernverband Confederación Nacional Campesina – CNC an den Staat gebunden, während andere soziale Bewegungen in Stadt und Land mit Repressionen rechnen mussten.
Zu einer “Erneuerung der Revolution” kam es erst wieder mit der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas, dem jungen Gouverneur Michoacáns und ehemaligen General der Revolutionstruppen.
Lázaro Cárdenas
“Alles was er ist, verdankt er mir” sagte der Jefe Máximo über Cárdenas, als dieser 1934 mit 39 Jahren als einer der jüngsten zum mexikanischen Präsidenten gewählt wurde.
Als sich der neue Präsident, nach Meinung des starken Mannes im Hintergrund, gegenüber streikenden Arbeitern zu nachgiebig zeigte, begann Calles nach Wegen zu suchen, Cárdenas abzusetzen. Dieser schlug jedoch in dramatischer Manier zurück: Am 9.April 1936 ließ er Calles und 20 seiner wichtigsten Gefolgsleute verhaften und in die USA deportieren. Mit diesem Coup vergrößerte Cárdenas seine persönliche Popularität und brachte die öffentliche Meinung hinter sich. Mit der Unterstützung der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit im Rücken nahm er sein ambitioniertes Projekt in Angriff, dessen Verwirklichung bis heute mit seinem Namen verbunden ist: die Verstaatlichung der nationalen Ölvorkommen, wie sie die Verfassung von 1916 vorsah.Am 18.März 1938 enteignete er siebzehn ausländische Ölgesellschaften in Mexiko, die zu der noch heute existierenden, staatlichen Gesellschaft Petróleos Mexicanos (PEMEX) zusammengeführt wurden.
Ungeachtet jubelnder Menschenmassen, die sich nach dieser Ankündigung auf den Plätzen des Landes versammelten, waren die ökonomischen Folgen überaus ernst. Mehrere Staaten, unter ihnen die USA, Großbritannien und die Niederlande, belegten mexikanisches Öl mit einem Boykott. Letztlich bewahrte der Zweite Weltkrieg die mexikanische Ölwirtschaft vor einem Fiasko und die Verstaatlichung vor dem Scheitern. Als das Öl knapper wurde, hoben die betreffenden Länder den Boykott wieder auf. Noch während des Krieges stimmte Mexiko 1942 einer Entschädigungsvereinbarung für die Enteignungen zu, die seine Auslandsschulden mit einem Mal auf für damalige Zeit astronomische 139 Millionen US Dollar hochschnellen ließ.
Mindestens ebenso revolutionär wie die Verstaatlichung der Ölindustrie war die zweite Säule der Cárdenasschen Politik: Die Umsetzung der lange geforderten und in der Verfassung verankerten Agrarreform, die den Dörfern das Recht auf kommunalen Landbesitz (Ejido) garantiert. Gegen Ende seiner sechsjährigen Amtszeit hatte die Regierung Cárdenas annähernd die Hälfte der Anbaufläche auf solche Ejidos verteilt. Diese wurden auch bei der Beschaffung von Krediten, sowie technisch und in der Vermarktung ihrer Produkte unterstützt. Dennoch geriet das Unternehmen ökonomisch zu einem Fehlschlag. Die damit verbundenen, steigenden öffentlichen Ausgaben führten zu Preissteigerungen und konnten nur zu einem geringen Teil durch die Einnahmen aus der Verstaatlichung der Ölindustrie kompensiert werden.
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08. Weltkrieg und Ende der Revolution
Presidencialismo und Wirtschaftswunder
Eine Sonderstellung nahm Mexiko während des Zweiten Weltkrieges ein. So war es im März 1938 das einzige Land, das vor dem Völkerbund offiziell Protest gegen den “Anschluss” Österreichs an Hitler-Deutschland einlegte. Österreichische Antifaschisten und Emigranten bedankten sich für diese Haltung in einem Telegramm: “Die in Mexiko ansässigen Österreicher richten an Sie, Herr Präsident, mit größter Dankbarkeit für das großzügige und mutige Auftreten Mexikos in Genf dieses Telegramm. Ein Akt, der Mexiko einen Ehrenplatz unter den Nationen sichert, die die Freiheit und das internationale Recht wahren und verteidigen.”
Es blieb nicht beim Protest. Trotz schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse nahm Mexiko bis zu 10.000 Vertriebene aus Deutschland, Österreich und insbesondere aus Osteuropa und Asien auf, ebenso wie schon zuvor zahllose Flüchtlinge aus Spanien, die nach dem endgültigen Sieg Francos das Land verlassen mussten.
Zu den prominentesten deutschsprachigen Emigranten gehörten u.a. Anna Seghers und Egon Erwin Kisch.
Nach anfänglicher Neutralität trat Mexiko 1942 der Koalition gegen die Achsenmächte bei. Als einziges lateinamerikanisches Land neben Brasilien war Mexiko auch militärisch am Zweiten Weltkrieg beteiligt.
Weitaus wichtiger als sein militärischer Beitrag war für den Kriegsverlauf jedoch Mexikos Bedeutung für die Kriegswirtschaft der USA. 300.000 mexikanische Landarbeiter, sogenannte braceros, ersetzten die fehlenden Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, zudem versorgte Mexiko die USA mit wichtigen Rohstoffen. Die mexikanische Industrie wurde ausgebaut und modernisiert, um die Nachfrage im eigenen Land und in den USA befriedigen zu können. In diesem Zeitraum, der als Beginn des mexikanischen Wirtschaftswunders (milagro económico mexicano) gilt, verdoppelte sich das mexikanische Außenhandelsvolumen, von dem alleine 90 % in die USA flossen. Der Boom sollte in Mexiko bis Mitte der 70er Jahre anhalten und einen gesellschaftlichen Strukturwandel mit sich bringen. Der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft halbierte sich, während sich derjenige der Industrie-Beschäftigten verdreifachte.
Diese Verschiebungen fanden vor dem Hintergrund einer wahren Bevölkerungsexplosion statt. Zwischen 1920 und der Jahrtausendwende verdoppelte sich die Bevölkerung jeweils im Laufe von 25 Jahren, von 13 Millionen um 1915 auf knapp 100 Millionen 1999.
Mit dem Machtwechsel von Cárdenas zum konservativen Avila Camacho galt die mexikanische Revolution bereits seit 1940 als beendet. Die sie tragende Partei war zur Partei der “institutionalisierten Revolution”, dem PRI, und die Regierungsform zum autoritären presidencialismo geworden. Diese Machtfülle des Präsidenten auf Kosten der Legislative und Judikative entspricht der Verfassung von 1917. Der Präsident ist Staats- und Regierungschef, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und der Bundespolizei, sowie Führer der politischen Klasse. Dass der Präsident auch seinen Nachfolger benennt, der in Wahlen nur noch bestätigt wird, mag früher die Entscheidung eines überzeugenden Führers, eines caudillo gewesen sein. Mit der Amtszeit Camachos und in dessen Nachfolge wurde die Regelung jedoch zum Gewohnheitsrecht. Trotz oder gerade wegen des autoritären Charakters seines politischen Systems, das – nicht zuletzt ausländischen Investoren – Stabilität versprach, galt Mexiko bis weit in die 60er Jahre als Modell für ganz Lateinamerika.
Massaker und Olympische Spiele
Mit der Vergabe der Olympischen Spiele 1968 schien Mexiko seine Erfolgsgeschichte der Nachkriegs- und Nachrevolutionszeit nahtlos fortzuschreiben. Erstmals sollte das internationale Großereignis in einem Land, das der Dritten Welt zugeordnet wurde, stattfinden. Doch die überwiegend studentisch geprägte Protestbewegung der Zeit, die sich in Mexiko ebenso formiert hatte wie in anderen lateinamerikanischen Ländern oder in Europa, wollte eine Revolution, keine Olympischen Spiele.
Vorbote oder gar Auslöser des Massakers von Tlatelolco, das die mexikanische Gesellschaft am 2.Oktober 1968, wenige Tage vor Beginn der Spiele, nachhaltig prägen sollte, war eine Demonstration am 27. August. Sie endete mit der Versammlung einer Menschenmenge vor dem Präsidentenpalast, die die Parole skandierte: ¡SAL AL BALCON, CHANGO HOCICON! — “Komm raus auf den Balkon – großmäuliger Affe!” Als am 2. Oktober Tausende unbewaffneter Demonstranten, die meisten von ihnen Studenten, die heutige Plaza de las Trés Culturas betraten, um demokratische Veränderungen im PRI–System zu fordern, ließ, auch wenn alle politisch Verantwortlichen dies leugneten, der damalige Innenminister und spätere Präsident Luís Echeverría Álvarez in die Menge der Demonstranten feuern. Dreihundert von ihnen wurden erschossen, auch wenn die offiziellen Regierungsangaben nur 38 Tote “eingestanden”, Hunderte andere wurden verletzt.
Ein solches Massaker war in Mexiko – zumindest in der jüngeren Geschichte – ohne Beispiel. Es löste einen Schock in der Bevölkerung aus. Erst im Juni 2002, mehr als dreißig Jahre nach dem Ereignis, gab Präsident Vicente Fox geheime Polizeiakten frei. Er ernannte einen Sonderermittler zur Aufklärung der Hintergründe des traumatischen Ereignisses, insbesondere auch die Rolle des damaligen Innenministers Luís Echeverría. Ein vorläufiger Bericht, den die Ermittler zum 35. Jahrestag des Verbrechens im Oktober 2003 vorlegten, wies nach, dass alleine 360 Heckenschützen auf die Demonstranten anlegten. Dieser Umstand belegte sowohl die Dimension der gesamten Aktion, als auch die hierarchisch hochrangige Position ihrer Befehlsgeber. Der Bericht wies zudem nach, dass einige der Heckenschützen im Apartment von Echeverrías Schwägerin Rebeca Zuno de Lima Position bezogen hatten. Ob das anwesende Militär aufgrund der Schüsse aus dem Hinterhalt der Meinung war, unter Beschuss geraten zu sein und daraufhin in die Menge feuerte, oder ob die Soldaten auf ausdrücklichen Befehl schossen, ist noch nicht restlos geklärt. Die mexikanische Regierung hatte jedenfalls auf brutale Weise demonstriert, dass sie keine Störung ihrer Selbstdarstellung während der Spiele dulden würde. In den internationalen Schlagzeilen verdrängte bald darauf Bob Beamens Jahrhundertsprung das Massaker auf dem Platz der Drei Kulturen.nach oben
09. Beginn und Ausbruch der Krise
In der Folge der Ereignisse vom Oktober ‘68 wandten sich viele junge Leute und Intellektuelle von der Staatspartei PRI ab, der korporative Staat hat einen tiefen Riss bekommen.
Einige militante Studenten organisierten sich in der sogenannten Stadtguerilla und bekämpften den Staat, der seinerseits den schmutzigen Krieg (guerra sucia) eröffnete, dem bis zur Jahrtausendwende mehrere Hundert Menschen zum Opfer fielen, sei es durch Folter, Verschwinden lassen oder Ermordung.
Anfang der 80er Jahre gingen einige Anhänger der nationalen Befreiungsbewegung (Fuerza de Liberación Nacional – FLN) nach Chiapas, um die neo-zapatitische Bewegung und spätere EZLN mit aufzubauen.
Einerseits ging die mexikansiche Regierung im Rahmen des “schmutzigen Krieges” mit aller Härte gegen die Guerillabewegung vor, andererseits vermochte sie es, Teile der Bewegung mit integrativen Angeboten immer wieder an die Regierung zu binden.
Mitte der 70er Jahre stieg die Staatsverschuldung analog zu den wachsenden öffentlichen Ausgaben erneut stark an. Ursachen waren Verstaatlichungsmaßnahmen und beschwichtigende Unterstützungsprogramme für gesellschaftliche Gruppen, die im Rahmen des Wirtschaftswunders benachteiligt wurden.
Unternehmer reagierten auf Verstaatlichungen mit einem Investitionsstreik und dem Transfer von Geldern ins Ausland. Dennoch konnte die Krise noch einmal abgewendet werden, als just zu diesem Zeitpunkt neue, riesige Ölvorkommen im Golf von Mexiko entdeckt wurden.
Die Wachstumsraten zogen daraufhin wieder stark an, und Mexiko erhielt großzügig internationale Kredite.
Zur Eskalation der Krise kam es dann Anfang der 80er Jahre, als die Ölpreise drastisch fielen, und Mexiko, bei gleichzeitig steigenden Zinsen, seinen Verpflichtungen aus der Auslandsverschuldung nicht mehr nachkommen konnte. Mexiko erklärte seine Zahlungsunfähigkeit. Die daraufhin mit dem IWF getroffenen Vereinbarungen zwangen Mexiko, sich neoliberalen Wirtschaftskonzepten zu öffnen, die die Privatisierung von Betrieben ebenso vorsah wie den radikalen Abbau von Agrarsubventionen und Zollschranken.
Für weite Teile der Bevölkerung hatten diese Maßnahmen dramatische Einkommensverluste zur Folge. Vor allem die Kürzung der staatlichen Agrarsubventionen um 70% in den Jahren 1982 bis 1988 brachte eine weitere Verarmung der ländlichen Bevölkerung mit sich. Nicht von ungefähr geht auch die Gründung der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional) auf die Jahre 1982/83 zurück.
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10. Das große Beben und der Zerfall des PRI-Systems
Am frühen Morgen des 19.Septembers 1985, erschütterte ein verheerendes Erdbeben der Stärke 8,1 Mexico City.
Obwohl das Epizentrum des Bebens mehrere hundert Kilometer entfernt vor der Pazifikküste lag, wurde es erst in der Hauptstadt zur Katastrophe. Mexico City wurde in doppelter Hinsicht an seine zerstörte Vorgängerin erinnert, die Aztekenhauptstadt im Schlamm des Texcoco-Sees. Der aus Sedimenten des Sees bestehende Untergrund der Millionenmetropole wirkte wie ein Verstärker auf die Erdstöße. Die grausame Bilanz waren 10.000 Tote, 20.000 Verletzte und eine Schadenssumme von 5 Milliarden US-Dollar.Dass diese Naturkatastrophe mit Verspätung auch zum politischen Beben wurde, lag an der Unfähigkeit des korporativen PRI-Staates, den Betroffenen wirksam Hilfe zu leisten. Die Abkehr breiter Bevölkerungsschichten vom PRI–System war die Folge. Parallel dazu entstanden unabhängige Stadtteilbewegungen, und es begann ein Prozess der Repolitisierung der Studentenschaft.
Innerhalb des PRI kam es im Jahr nach dem Erdbeben zur Abspaltung und Gründung eines linksdemokratischen Wahlbündnisses um Cuautéhmoc Cárdenas, dem Sohn des legendären Präsidenten. Dieser trat denn auch im Präsidentschaftswahlkampf von 1988 gegen den PRI–Kandidaten Salinas de Gortari an. Nur massive Wahlmanipulationen hielten den PRI an der Macht und verhalfen seinem Kandidaten zum Präsidentenamt.
Doch bereits Cárdenas’ Wahlsieg um das “Bürgermeisteramt” der Hauptstadt machte deutlich, dass der PRI im Zentrum der Macht in Wahlen geschlagen werden konnte.
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11. Der Aufstand in Chiapas & die EZLN
Mexiko trat unter dem PRI-Präsidenten Salinas de Gortari dem GATT– Abkommen bei und musste seine Grenzen für Agrarimporte öffnen. Die Kleinbauern in Mexikos Süden hatten kaum eine Chance. 1994 verloren die indigenen Bauern auch ihren rechtlichen Schutz: Die Reform des Artikels 27 der Verfassung schaffte den “Veräußerungsschutz” für das kommunale Ejido – Land ab. Es wurde aufgekauft und geriet in den Sog der Landkonzentration.
Zeitgleich zum Beitritt Mexikos zur Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA am 1. Januar 1994, der die Zugehörigkeit Mexikos zur Ersten Welt suggerieren sollte, brach der zapatistische Aufstand in Chiapas aus. Am Neujahrsmorgen hatte die – zapatistische Armee der nationalen Befreiung – (EZLN) San Cristóbal de las Casas und weitere Orte im Hochland besetzt. Ihre Vertreter erklärten, dass sie sich für “den bewaffneten Weg” entschieden hätten, um die existenziellen und berechtigten Forderungen der indigenen Landbevölkerung nach “Land und Freiheit” durchzusetzen.
Nach einem zwölftägigen Krieg, der zwischen 145 (Version der Regierung) und 1000 (Version der Zapatisten) Menschenleben forderte, erklärte die Regierung einen einseitigen Waffenstillstand. Unter Vermittlung von Samuel Ruiz, Bischof von San Cristóbal, kam es zu einem ersten Gespräch zwischen Regierung und Zapatisten. Im Jahr darauf unternahm die Regierung einen erneuten Versuch, das Problem militärisch zu lösen und die Bewegung ihrer Führung zu berauben. Die Festnahme der Anführer misslang.
Nach einigen Verhandlungserfolgen der EZLN und ebenso vielen Rückschlägen schien mit dem Amtsantritt Fox’ eine Lösung des Konflikts möglich. Er nahm Chiapas in die politische Tagesordnung auf und schloss 53 Militärposten im südlichen Bundesstaat. Ende Februar 2001 kam es zum Marsch der Zapatisten auf Mexiko City. Sie wollten vor dem Bundeskongress die 1996 ausgearbeitete Verfassungsreform über indigene Rechte verteidigen. Der Marsch durch 12 Bundesstaaten brachte der Bewegung viel öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung. Die Hoffnung auf einen positiven Ausgang des Verhandlungsprozesses zerschlug sich jedoch jäh. Das Gesetz, das der Bundeskongress im April verabschiedete, ignorierte wesentliche Elemente indigener Autonomie. Die EZLN bezeichnete das Gesetz als Verrat und lehnte weitere Verhandlungen mit der Regierung ab. Seitdem herrscht Schweigen. (Stand: 1.1.2004)
Wesentlichen Anteil am internationalen Medienecho, das die EZLN erfuhr, hatte der Kult um ihren stets maskiert auftretenden Anführer – Subcomandante Marcos und dessen mutmaßliche Identität. Ob die Marktgesetze der Medienöffentlichkeit oder eine gezielte Medienstrategie der EZLN für diese Zuspitzung verantwortlich waren, in jedem Fall konterkarierte sie den basisdemokratischen Anspruch der Bewegung. Denn anders als die meisten politischen Bewegungen strebt die EZLN nicht die politische Machtübernahme an und verweigert damit ihre Integration in bestehende Strukturen. Dies machte sie weit über Chiapas hinaus zum Impulsgeber, auch für internationale Bewegungen, wie z.B. das Netzwerk Attac.
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12. Der historische Machtwechsel
Den überraschenden Wahlsieg des früheren Coca-Cola-Managers Vicente Fox, der für den rechtskonservativen PAN (Partido Acción Nacional) kandidiert hatte, begrüßten im Dezember 2000 auch viele seiner politischen Gegner. Fox stand für die Ablösung des verbrauchten PRI-Systems nach 71 Jahren faktischer Alleinherrschaft und eine lang erhoffte Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft.
Kaum zwei Jahre später war dieser Bonus schon verbraucht. Ohne sichere Abgeordnetenmehrheit blieben viele der vollmundigen Versprechungen, mit denen Fox angetreten war, uneingelöst. Stattdessen verzeichneten die Parlamentswahlen zur Halbzeit der Präsidentschaft im Juli 2003 einen neuen Rekord an Nichtwählern; lediglich 40 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Der PRI hatte es immerhin geschafft, den harten Kern seiner Stammwähler zu mobilisieren und sich so die absolute Mehrheit im Parlament zu sichern. Der PAN hingegen musste herbe Verluste hinnehmen und verlor 70 Mandate (von 220).
Fox’ Niederlage hat einen einfachen Grund. Angetreten als »Mann des Wechsels«, hat er keines seiner Ziele erreicht: Vor allem bei der für die Einhaltung der NAFTA Verträge wichtigen Öffnung des Energie- und Erdölsektors sowie der Neuordnung der Arbeitsgesetzgebung wurden keine Fortschritte erzielt. Ebenso wenig konnte ein Migrationsabkommen mit den USA ausgehandelt werden. Statt neue Arbeitsplätze zu schaffen, gingen seit dem WTO–Beitritt Chinas 2002 Hunderttausende Jobs in der kriselnden Maquila–Industrie verloren. Diese Fertigungs– und Montagefirmen in den zollfreien Sonderwirtschaftszonen an der mexikanisch-us-amerikanischen Grenze produzieren die Hälfte der mexikanischen Exporte in die USA. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom übermächtigen Nachbarn konnte kaum reduziert werden, noch immer gehen 80 Prozent des gesamten Exports in die USA.
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13. Alte Probleme im neuen Jahrtausend
Die Situation der mexikanischen Landwirtschaft verschärft sich seit dem Wegfall der Agrarzölle 2003 zusehends. Die Mehrheit der landwirtschaftlichen Betriebe ist unter Weltmarkt-Bedingungen nicht konkurrenzfähig. Die Hälfte der Landbevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Besonders dramatisch ist die Lage der Maiswirtschaft. In einer der ältesten Maiskulturen der Welt werden einheimische Sorten unwiederbringlich von hochsubventionierten US-Importen, oft auch gentechnisch veränderten, verdrängt. Die Privatisierung des Getreide- und Maisvetriebs beschleunigt diesen Verdrängungsprozess noch, vor allem, wenn man bedenkt, dass der weltgrößte Tortillaproduzent, Grupo Maseca, zu einem Drittel einem Gen-Tech Unternehmen gehört.
Die Existenzgefährdung der Maisbauern verstärkt den Migrationsdruck Richtung USA, und obwohl in den vergangenen 10 Jahren mehr als 3000 Mexikaner beim Versuch des illegalen Grenzübertritts ums Leben gekommen sind, steht ein Migrationsabkommen mit den USA noch immer in weiter Ferne.
Umso mehr, als die Bush–Regierung sehr verärgert auf die fehlende Unterstützung durch den südlichen Nachbarn im Hinblick auf die us-amerikanische Irakpolitik reagiert hat. So drohten im Vorfeld der Abstimmung im UN–Sicherheitsrat zwei Beamte des US-Außenministeriums, Mexiko würde „einen hohen Preis zahlen“, wenn es sich der US-Position nicht anschlösse.
Im Zuge des Irakkrieges hat das Ansehen der USA in Mexiko schwer gelitten. Nur noch 25 Prozent der Mexikaner haben ein positives Bild des Nachbarlandes, nach zuvor immerhin 50 Prozent.
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